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Über die Sixtina
von Martin Heidegger
Um dieses Bild versammeln sich alle noch ungelösten Fragen nach der Kunst und dem Kunstwerk.
Das Wort “Bild” soll hier nur sagen: Antlitz im Sinne von Entgegenblick
als Ankunft. Das so gemeinte “Bild” liegt noch vor der Unterscheidung
in “Fenstergemälde” und “Tafelbild”. Der Unterschied ist im einzigen
Fall der Sixtina kein bloß kategorialen, sondern ein geschichtlicher.
“Fenstergemälde” und “Tafelbild” sind hier in je verschiedener Weise
Bild. Daß die Sixtina zum Tafelbild geworden und museal; darin verbirgt
sich der eigentliche Geschichtsgang der abendländischen Kunst seit der
Renaissance. Aber vielleicht war die Sixtina anfänglich auch nicht
Fenstergemälde. Sie war, und d. h. sie bleibt, verwandelt ein
einzigartiges Bildwesen.
Theodor Hetzer, mit dem ich am Freiburger Gymnasium auf derselben Bank
saß und dem ich ein verehrendes Andenken bewahre, hat so Erleuchtendes
zur Sixtina gesagt, daß jeder seinem denkkräftigen Anschauen nur immer
danken kann. Indes hat mich seine Bemerkung doch bestürzt, die sagt,
daß die Sixtina “nicht an eine Kirche gebunden sei, nicht nach einer
bestimmten Aufstellung verlange”. Dies ist ästhetisch gedacht richtig
und entbehrt doch der eingentlichen Wahrheit. Wo immer künftig dieses
Bild noch “aufgestellt” sein mag, dort hat es seinem Ort verloren. Es
bleibt ihm versagt, sein eigenes Wesen anfänglich zu entfalten, d. h.
diesen Ort selber zu bestimmen. Das Bild irrt, verwandelt in seinem
Wesen als Kunstwerk, in der Fremde. Dem musealen Vorstellen, das seine
eigene geschichtliche Notwendigkeit und sein Recht behält, bleibt
dieses Fremde unbekannt. Das museale Vorstellen ebnet alles ein in das
gleichförmige der “Ausstellung”. In dieser gibt es nur Stellen, keine
Orte.
Die Sixtina gehört in die eine Kirche zu Piacenza, nicht in einem
historisch-antiquarischen Sinne, sondern ihrem Bildwesen nach. Ihm
gemäß wird das Bild stets dorthin verlangen. Indes weiß ich wohl, daß
ich zu einem Mitreden weder befugt noch gerüstet bin. Darum bleiben die
folgenden Bemerkungen “Spekulationen”. Freilich ist speculari auch ein
Schauen, aber ein unsinnliches.
Zum “Fenstergemälde” wäre zu fragen: Was ist ein Fenster?
Sein Rahmen grenzt das Offene des Durchscheinens ein, um es durch die Grenze
in eine Freigabe des Scheinens zu versammeln. Das Fenster als Einlaß
des nahenden Scheinens ist Ausblick in die Ankunft.
Aber in dem einzigen Geschehnis dieses einzigen Bildes erscheint das
Bild nicht nachträglich durch ein schon bestehendes Fenster, sondern
das Bild selber bildet erst dieses Fenster und ist darum auch kein
bloßes Altarbild im gewohnten Sinne. Es ist Altar-Bild in einem viel
tieferen Sinne.
Das gemalte dauert auf seine Weise. Aber das Bild kommt je nur jäh in
sein Scheinen, ist nichts anders als die Jähe dieses Scheinens. Maria
bringt den Jesusknaben so, daß sie selbst erst durch ihn
her-vor-gebracht wird in ihre Ankunft, die in sich jeweils das
verborgen Bergende ihrer Herkunft mit-er-bringt.
Das Bringen, worin Maria und der Jesusknaben wesen, versammelt sein
Geschehen in das blickende Schauen, darein das Wesen beider gestellt,
daraus es Gestalt ist.
Im Bild, als dieses Bild geschieht das Scheinen der Menschwerdung
Gottes, geschieht jene Verwandlung, die auf dem Altar “die Wandlung”,
als das Eigenste des Meßopfers sich ereignet.
Allein das Bild ist kein Abbild und kein Sinnbild nur der heiligen
Wandlung. Das Bild ist das Scheinen des Zeit-Spiel-Raumes als des
Ortes, an dem das Meßopfer gefeiert wird.
Der Ort ist je ein Altar einer Kirche. Diese gehört in das Bild und
umgekehrt. Dem einzigen Geschehnis des Bildes entspricht notwendig seine
Vereinzelung an den unscheinbaren Ort der einen unter den vielen anderen
Kirchen. Diese Kirche wiederum, und d.h. jede einzelne ihrer Art, rufen
nach dem einzigen Fenster dieses einzigen Bildes: Es gründet und vollendet
den Bau der Kirche.
So bildet das Bild den Ort des entbergenden Bergens (der A-letheia), als
welches Entbergen das Bild west. Die Weise seines Entbergens (seiner Wahr-heit)
ist das verhüllende Scheinen der Her-kunft des Gottmenschen. Die Wahrheit
des Bildes ist seine Schönheit.
Doch ich merke, dies alles bleibt ein unzureichendes
Stammeln.
(Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Band 13, Aus
der Erfahrung des Denkens 1910-1976, Vittorio Klostermann, Frankfurt am
Main, 1983, pp. 119-121)
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